
Die
Diskussion um die russischstämmige Minderheit, welche ca. 28% der Einwohner in Lettland ausmacht, wird hochemotional geführt. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist russischsprachig, schließt man
die Einwohner weißrussischer und ukrainischer Herkunft ein.
Während ethnische Letten von „mangelnder Integrationsbereitschaft und Identifikation“ sprechen, klagt die andere Seite über „systematische Diskriminierung“.
Wie so oft liegen die Ursachen für diesen gesellschaftlichen Konflikt in der Vergangenheit. Nachdem Lettland, wie auch die anderen baltischen Staaten unter umstrittenen Umständen in die
Sowjetunion „integriert“ wurden, hat man im Zuge der „Russifizierungspolitik“ vermehrt ethnische Russen angesiedelt. So sollte die Kontrolle Moskaus in den neuen Sowjetrepubliken gewährleistet
bleiben.
Lettland reagierte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der erlangten Unabhängigkeit mit einem umstrittenen Gesetz. Nur wessen Vorfahren bereits vor 1940 schon in Lettland gelebt haben, erhält
auch automatisch die lettische Staatsbürgerschaft. Zwar kann durch Staatsbürgerschaftskurse und eine Prüfung nachträglich ein lettischer Pass erworben werden, doch stellt diese Praxis eine
offensichtliche Ungleichbehandlung der in Lettland geborenen Bürger dar.
Wer diesen formalen Integrationsprozess nicht absolviert, fällt in die Kategorie der „Nichtbürger“, das sind etwas mehr als 12% der Bevölkerung des
Landes.
Ungefähr 65% der Nichtbürger haben russische Wurzeln, weitere 23% haben einen ukrainischen oder weißrussischen Hintergrund, der Rest verteilt sich auf andere Volksgruppen. Nichtbürger sind nicht
wahlberechtigt und dürfen keine Tätigkeit im öffentlichen Dienst ausüben.
Der Nichtbürgerstatus hat nicht nur Nachteile
Die Motive, trotzdem keine Integrationsprüfungen zu absolvieren, können vielfältig sein. Viele ethnische Russen gehen mit dem in den Integrationskursen vermittelten, sowjetkritischen
Geschichtsbild nicht konform. Der Verzicht auf die Staatsbürgerschaft kann aber auch pragmatische Gründe haben. In der Vergangenheit waren Nichtbürger von der Wehrpflicht befreit und im Gegensatz
zu lettischen Staatsbürgern war ihnen die visafreie Einreise nach Russland möglich. Auch die Bewegungsfreiheit in der Schengenzone ist mit dem Status als Nichtbürger gegeben.
Wer also diese Vorteile nutzen und sich gleichzeitige die Mühen und Kosten des Einbürgerungsprozesses ersparen wollte, konnte dem Status des Nichtbürgers durchaus etwas abgewinnen.
Geschichte bestimmt Politik der Gegenwart
Die Gräben in der lettischen Gesellschaft scheinen noch lange nicht überwunden. Während die russische Minderheit zwar eine Folge der Sowjetpolitik ist, haben die Nachkommen oft nicht einmal mehr
die alte UDSSR erlebt. Eine Ungleichbehandlung kann aber zur nachträglichen Identifikation mit der Sowjetzeit führen.
Das ist allerdings nicht die einzige Ursache für die Problematik. Viele ethnische Russen aus der älteren Generation empfinden den Fall der Sowjetunion und damit verbundene Machtverlust als
traumatische Erfahrung. Diese Spaltung in der Gesellschaft schlägt sich auch in der politischen Landschaft nieder. Parteien vertreten meist entweder ausschließlich die Interessen der ethnischen
Letten oder der russischstämmigen Bevölkerung. Politische Initiativen, die beide Interessensgruppen abbilden stellen die Ausnahme dar.
Abgesehen von gelegentlichen Provokationen (z.B. Verharmlosung von Stalin oder der Deutschen Besatzung) verläuft der Alltag in Lettland friedlich. Auch die internationale Politik und die
schwierigen Beziehungen Lettlands zur Russischen Föderation konnten diesbezüglich keine eskalierende Hebelwirkung entfachen.
Eine nachhaltige Harmonisierung und Integration kann aber nur auf gegenseitigem Respekt und der Überwindung historischer Differenzen basieren.
Sprachdiskussion mit Symbolcharakter
Die Verweigerung Lettisch zu sprechen oder gar erst zu erlernen, stellt für viele Letten eine ungemeine Kränkung dar und fördert das Misstrauen.
Umgekehrt könnte man der Mehrsprachigkeit Lettlands mit einem offiziellen Status für die russische Sprache einen symbolischen Dienst erweisen. Historisch natürlich ein hochsensibles Feld, denkt
man an die Russifizierung und vormalige Verdrängung der lettischen Sprache zurück.
De facto ist Russisch im öffentlichen Raum auf diversen Informationstafeln, Schriftstücken und als zweite Alltagssprache ohnehin sehr präsent. Das macht unter anderem
Lettland auch zu einer attraktiven Reisedestination für Staatsbürger der Russischen Föderation. Dabei bleibt es längst nicht nur beim Familienbesuch, auch klassische Städtereisen ohne
verwandtschaftlichen Bezug sind durchaus häufig.
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