
Die Medienresonanz um den 61. Eurovision Song Contest wird wohl so bald nicht
abklingen. Das Siegerlied „1941“, das die Familiengeschichte der ukrainischen Sängerin Jamala thematisiert, kann leicht als Anspielung auf die aktuellen Ereignisse rund um die Krim verstanden
werden.
Möglicherweise hätte ein weniger „interpretierbares“ Songthema auch ein erfolgreiches Ergebnis, aber weniger kontroverse Diskussionen erzeugt.
Der russische Teilnehmer Sergey Lazarev musste sich mit 38-Punkten-Vorsprung im Televoting aufgrund seines Rückstandes von 81 Punkten in der Jury-Wertung mit dem dritten Platz zufrieden geben.
Dabei war die Diskrepanz in diesem Fall noch weitaus geringer als beim „Jurykaiser“ Australien. Während „Down Under“ in der Jurywertung mit 109 Punkten noch als absoluter Favorit galt, reichten
die 191-Televoting-Punkte nur noch für Platz 2.
Der unangefochtene Sieger der Televoting-Herzen bleibt aber Polen. In der Jury-Wertung mit dem vorletzten Platz (7 Punkte) praktisch abgestraft, ging sich mit Platz 3 im Televoting und
unglaublichen 222 Punkten zumindest noch Platz 7 im Gesamtranking aus.
Ein entscheidender Faktor, den sowohl Polen als auch Ukrainer und Russen teilen, ist die große Diaspora, über ganz Europa verteilt. Für Russland eignen sich
z.B. die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, mit ihren großen russischstämmigen Minderheiten als „verlässliche Punktelieferanten“.
Im Televoting bekam Russland aus der Ukraine 12 Punkte, Russland vergab 10 Televoting-Punkte an die ukrainische Interpretin. Das liegt mit Sicherheit auch
daran, dass eine große ukrainische Community in Russland lebt und russischstämmige Einwohner die zweitgrößte Volksgruppe in der Ukraine ausmachen. Außerdem kennt man, trotz aller Konflikte, die
Musikstars des Nachbarn. Ein Phänomen, welches auch am Balkan zu regelmäßigen „Punktetransfers“ führt. Im Juryvoting gaben sich beide Länder keine Punkte.
Einige Voting-Ergebnisse entsprechen nicht den Erwartungen
Wer sich bei der Präsentation der Voting-Ergebnisse als „Experte für Internationale Beziehungen“ inszenieren wollte, musste wohl beim diesjährigen ESC so manch herbe
Niederlage einstecken.
Armenien, enger Partner Russlands, vergab nur 2 Jury-Punkte an den Beitrag Sergey Lazarevs. Armeniens „Erzfeind“,
Aserbaidschan hingegen, vergab sowohl im Televoting als auch in der Jury-Wertung 12 Punkte an Russland. Beachtlich, bedenkt man die komplizierten
Beziehungen zur Russischen Föderation, nicht zuletzt aufgrund der Situation am Bergkarabach und die enge Bindung Aserbaidschans zur Türkei.
Die 12 israelischen Jury-Punkte für die Krimtatarin Jamala überraschen nicht nur, weil Israel eine betont neutrale Haltung in Bezug auf die Situation auf der
Krim eingenommen hat. Hinzu kommt noch der Fakt, dass die Krimtataren eine mehrheitlich islamisch-geprägte Volksgruppe sind. Im Televoting wurden in Israel 10 Punkte an Russland und 8 Zähler an
die Ukraine vergeben.
Das NATO-Mitglied Albanien pflegt relativ unterkühlte Beziehungen zu Russland und ein freundliches Verhältnis zur USA. Gründe sind nicht zuletzt „die
Kosovofrage“ und die Beziehung zu Serbien. Dies hinderte die Jury aber nicht daran, 7 Punkte an Russland zu vergeben. Die Ukraine bekam keine Punkte aus
Albanien.
Belarus vergab „traditionell“ sowohl per Jury als auch im Televoting 12 Punkte an Russland. Mit 10 Televoting- und 7 Jury-Punkten erhielt die Ukraine die zweitmeisten
Punkte aus Weißrussland.
In den baltischen Staaten wurden im Schnitt 9 Jury-Punkten an die Ukraine vergeben, wobei nur die Jury in Lettland mehr Punkte als im Televoting vergab.
Lettland war allerdings auch die einzige baltische Nation, die auch 7 Jury-Punkten an Russland vergab. In allen baltischen Ländern wurden jeweils 12 Televoting-Punkte an Russland vergeben. Auch das ist nicht unbedingt überraschend, speziell in Lettland und Estland, wo der
russischstämmige Bevölkerungsanteil ca. ein Drittel beträgt.
Betont diplomatisch neutral, könnte man das Jury-Verhalten in Ungarn und Tschechien interpretieren. Beide Länder gaben weder der
Ukraine noch Russland Punkte. Im Televoting konnte sich dann jeweils die Ukraine knapp mit 12 Punkten vor Russland mit 10 Punkten durchsetzen. In Tschechien spielte wohl auch die große
ukrainische Community eine Rolle.
Deutschland und Großbritannien „abgestraft“?
Der letzte Platz von Deutschland wurde in den Kommentarspalten bereits häufig
als „Antideutsches Ressentiment Europas“ oder gar als Absage an „Merkels Flüchtlingspolitik“ eingestuft. Den drittletzten Platz Großbritanniens wollten manche
als „Strafe für die Brexit-Bestrebungen“ interpretieren. Möglicherweise ist für Nationen ohne mobilisierbare Diaspora im Ausland aber auch nur eines noch viel
wichtiger als bei anderen Ländern: Der musikalische Beitrag.
Polen als „Opfer“ der
Jury-Wertung
Der ultimative Televoting-Shooting-Star des Jahres ist zweifelsfrei Polen.
Michał Szpak bekam nur in Litauen, Norwegen, Montenegro und Aserbaidschan
insgesamt bescheidene 7 Jurypunkte. Doch beim Televoting schüttete sich ein wahres Füllhorn an Punkten über den polnischen Interpreten aus. Aus beinahe allen Nationen regnete es Punkte, auch
völlig unabhängig von internationalen Beziehungen und ethnischen Communities, ganz im Sinne eines „Siegers der Herzen“.
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