Eurovision Songcontest – Viel Diskussionsstoff und ein bisschen Musik

Unpolitisch war der Songcontest nie, denn bereits die Entscheidung ihn „unpolitisch“ gestalten zu wollen war höchst politisch motiviert. Schließlich galt es 1956, bei seinem Debüt, ein europäisches „Wohlfühlfeeling“ zu etablieren, ohne Polarisierung, passend für die ganze Familie.

Das ehemals verfeindete Nachkriegseuropa sollte stabilisiert und versöhnt werden. Musikalisch überraschte der Songcontest schon damals nicht unbedingt. Bereits in den 60 Jahren wirkten viele Beiträge überdurchschnittlich verstaubt und konnten bei der alternativen Jugend nicht mit Rolling Stones und Beatles konkurrieren.

Für „Rebellen“ war der ESC nur auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs interessant, war es ja offiziell verboten, ihn am TV Gerät zu verfolgen. Verhindern ließ sich das allerdings nicht, selbst als 1977 die Gegenveranstaltung, der „Intervision Songcontest“, eingeführt wurde.

In den bereits sechs Jahrzehnten ESC ist die Anzahl der Beiträge mit politischem oder gesellschaftlichem Impact und Polarisierung zahlreich. Man denke z.B. an Francos Verhinderung eines katalanischen Teilnehmers 1968 und den Vorwürfen der Manipulation seines Regimes beim Sieg über Cliff Richard. Bei der Nelkenrevolution 1968 galt der portugiesische ESC Beitrag „E Depois do Adeus
als geheimes Angriffssignal gegen das faschistische Regime der Estado Novo.


ESC als identitätsstiftendes Merkmal in der Zeit nach dem kalten Krieg

Für viele ehemals hinter dem eisernen Vorhang gelegene Länder stellte die Teilnahme als unabhängiges Land auch ein wichtiges Element für ihre eigene Identität im neuen Europa dar. Der Sieg Estlands (2001) und Lettlands (2002) kurz vor dem EU Beitritt, war für beide Länder ein wichtiges Signal der Anerkennung.
Auch die ukrainische Sängerin Ruslana positionierte sich mit ihrem Sieg 2004 bewusst als kulturelle Botschafterin der Ukraine, allerdings nicht immer unpolitisch, wie ihre Nähe zur „orangenen Revolution“ zeigte.

Für viel Diskussionsstoff, nicht nur in Osteuropa, sorgte auch die zunehmende Popularität der Veranstaltung in der LGBT Community. War der Songcontest zwar musikalisch meist wenig innovativ, zogen schrille Outfits und die manchmal auch bewusst „trashigen“ Bühnenshows in den letzten Jahrzehnten vermehrt Paradiesvögel an. Diese Entwicklung lässt sich sowohl beim Publikum, als auch bei den Interpreten beobachten.

Als erfolgreiche Beispiele für Role Models der LGBT Community wären die Songcontest-Sieger „Dana International“ (Israel), Marija Šerifović (Serbien) und Conchita Wurst (Österreich) zu nennen, welche klar von den gewohnten Geschlechterklischees der frühen Songcontest-Jahre abwichen. Deren Erfolge wurden bereits in der Nominierungsphase nicht nur in ihren Heimatländern kontrovers diskutiert.

Auch die finnische Heavy Metal Band „Lordi“ konnte zwar den Songcontest gewinnen, entsprach aber für viele Finnen nicht dem gewünschten Bild ihres Landes in Europa. Man versuchte sogar mit Petitionen an die Regierung, die für „Finnland schändliche“ Präsenz der „Teufelsanbeter“ in Monsterverkleidung zu verhindern.

 

 


Auch aktuell spart der ESC nicht mit Diskussionsstoff



Beim diesjährigen Songcontest erregt die Krimtatarin
Susana Jamaladinowa, welche für die Ukraine die Geschichte der Krimtataren unter Stalin besingen wird so manches Gemüt in Russland. Eine Anspielung auf die politische Situation auf der Krim seit 2014 scheint offensichtlich. In die Schlagzeilen schaffte es auch die Idee des belarussischen Sängers Alexander Ivanov, nackt mit Wölfen auf der Bühne zu erscheinen. Dieses Konzept durfte der bereits in der Qualifikation ausgeschiedene Teilnehmer allerdings nicht umsetzen.

Ebenfalls nicht nach Plan lief der Auftritt der russischen Jurorin Anastasia Stotskaya. Sie wurde aus der Jury disqualifiziert, weil sie das streng geheime Voting öffentlich gestreamt hat. Auch das armenische Team musste Kritik einstecken, weil im Greenroom die für ESC-Kriterien verbotene Flagge der nicht als Staat anerkannten Region Bergkarabachs geschwenkt wurde. Der jahrzehntelange Konflikt mit Azerbaidschan um diese Region ist auch der offensichtliche Auslöser dafür, dass die beiden verfeindeten Nachbarländer einander schon beinahe traditionell keine Punkte verleihen.


Neben Fällen von offensichtlichem Aktivismus ist die Punktevergabe spätestens seit der Einführung des Televotings ein besonders hitziges Thema.

Immer wieder kursiert der Vorwurf, dass sich befreundete bzw. benachbarte Länder die Punkte „zuschanzen“ würden. Nun müssen Länder nicht unbedingt „befreundet“ sein, damit es verschiedene Gründe gibt, dass gewisse Nationen bei der Punktevergabe scheinbar bevorzugt werden. Oft kann ein gemeinsamer Kulturraum und Musikgeschmack ausschlaggebend sein, selbst wenn es sonst eine kritische Auseinandersetzung untereinander gibt.

Ein wichtiger Faktor ist auch die jeweilige Diaspora und deren Identifikation mit der ehemaligen Heimat. Dabei muss das Ergebnis der Expertenjury nicht unbedingt immer mit dem Publikumsvoting übereinstimmen. Manchmal neigt die Jury zu scheinbar politisch-gesellschaftlich motivierten Bewertungen, in anderen Fällen wieder eher das Publikum.

Bei all den Diskussionen und der scheinbaren Intention des ESC Zentralkomitees,
diese Vorkommnisse einzuschränken, bleibt eine Frage offen: Braucht der ESC nicht die kleinen Aufreger, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden? 

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