
Seit dem (instabilen) Waffenstillstand „Minsk II“ ist es ruhiger um den Ukrainekonflikt geworden. Zu Unrecht, denn
selbst ein konsequenter Waffenstillstand löst nicht die politischen Probleme in der Region.
Humanitäres Leid, verursacht durch eine katastrophale wirtschaftliche Situation, kann nur durch ein zumindest annähernd stabiles politisches Klima gemindert werden.
Der extreme Verfall der ukrainischen Währung (Hriwna) in Verbindung mit daraus resultierenden Preiserhöhungen belastet die Bevölkerung bis über die Schmerzgrenze. Das gilt insbesondere für
die Menschen in den umkämpften Gebieten.
Betrachtet man die Aussagen führender Politiker, scheint eine politische Lösung in weiter Ferne. Doch Umfragen in der Bevölkerung zeigen
ein anderes Bild. In vielen Punkten sind die Gräben zwischen den einzelnen Regionen bedeutend geringer als erwartet.
So wurde beispielsweise die erste Minsk Vereinbarung in der gesamten Ukraine mit mehr als 70% Zustimmung befürwortet. Die zentrale Frage dreht sich allerdings um eine potentiell dauerhafte
politische Lösung. Wie wird die Beziehung zur EU bzw. zu Russland aussehen und kann die territoriale Integrität erhalten werden?
März 2015 - Umfrage zeigt Kompromisspotential in der Bevölkerung
(Quelle: Kiev International Institute of Sociology)
Zur Frage „wie die bevorzugte Zukunft der Ukraine aussehen könnte“ sprechen sich in der gesamten Ostukraine 35% für eine zentralistische und 33% für eine mit mehr Autonomie in den Konfliktregion Donbass ausgestatte Politik und nur 22% für die Option „Separatismus“ aus. Interessanterweise ist selbst in den von Separatisten kontrollierten Gebieten eine Mehrheit von 51% für den Verbleib der Region Donbass in der Ukraine, davon wünschen aber 36% mehr Autonomie und lokale Rechte.
In der Südukraine, welche ebenfalls mehrheitlich russischsprachig ist, können sich sogar nur 3% mit der
Idee der „Abspaltung“ anfreunden, ein klares Signal
gegenüber den Expansionsplänen einiger separatistischer „Feldherren“, die Sprache und politische Präferenz auf unzulässige
Weise miteinander verbinden.
Konstruktiv auf den Wunsch nach mehr Autonomie in der Region Donbass reagiert auch die restliche Bevölkerung der Ukraine. In der Gesamtbevölkerung sehen 57% eine Ukraine in den derzeitigen Grenzen,
mit einer erhöhten Autonomie für die Donbass Region als akzeptable Lösung, nur 32% sprechen sich explizit gegen diese Option aus. In der Ostukraine befürworten sogar über 70% diese Variante
(Donbass 78%).
Auch eine Absage für intensive Beziehungen mit der EU wurde in keiner Region erteilt. Der größte Teil der Bevölkerung in der
Gesamtukraine forciert eine enge Bindung zur Europäischen Union (47%). Eine gute Bindung zu EU und Russland wünschen sich 34%. Ausschließlich gute Beziehungen zu Russland favorisieren
lediglich 13%.
In der Ostukraine spricht sich eine Mehrheit von 55% der Bewohner für ein gleich enges Verhältnis zu
Russland und zur Europäischen Union aus. Das hat kulturelle, familiäre und nicht zuletzt nachvollziehbare wirtschaftliche Gründe. Dieses kleine Fenster einer "Ukraine der lokalen Kompromisse“
kann selbstverständlich nicht über die unterschiedlichen Positionen in den einzelnen Regionen hinwegtäuschen.
Lewada Studie: Russische
Bevölkerung mehrheitlich gegen weitere Territorialerweiterungen
Laut einer Umfrage des russischen Lewada Instituts zeigt die Bevölkerung wenig Interesse an weiteren „Gebietsgewinnen“. Eine Mehrheit von 57% der Einwohner verurteilt den potentiellen Anschluss ehemaliger Sowjetrepubliken (Ausnahmefall Krim), nur 34% halten solche Schritte für legitim. Eine
komplette Trendumkehr im Vergleich zur identen Fragestellung im Frühjahr 2014.
Sonderstatus für Donbass und der Mythos um die Russische
Sprache
Auch wenn der Waffenstillstand immer wieder fatale Bruchstellen
aufweist, könnte er die Basis für eine Abkühlung der erhitzten Gemüter dienen. Eine taktische Trumpfkarte für Kiew, könnte die offizielle und demonstrative Aufwertung der russischen Sprache sein.
Sie ist im Alltag nicht nur in der Süd- und Ostukraine dominant, auch die zentralukrainische Hauptstadt Kiew spricht im Alltag vorrangig Russisch.
Der Mythos, dass ein russischsprachiger, oder russischstämmiger Ukrainer automatisch nicht solidarisch mit der Ukraine ist, widerspricht völlig der Realität.
Allerdings dürfen derartige Maßnahmen nicht in Widerspruch zum Schutz der Ukrainischen Sprache stehen. Auch viele Ostukrainer wünschen sich ein erhöhtes Angebot an ukrainischen Inhalten, selbst
wenn sie als Alltagssprache Russisch nutzten.
Ein Paket zur Installation eines umfassenden Sonderstatus für die Region Donbass (Steuerrecht, Sprache etc.) wurde bereits angedacht, wobei aber Bezeichnungen wie „Autonomie“ oder
„Föderalisierung“ bewusst vermieden wurden. Im Kontext der jüngsten Ereignisse sind diese Begriffe aus Sicht der Ukrainischen Regierung negativ besetzt. Inhaltlich besteht in diesem Paket aber
durchaus das Potential, zumindest die Verhandlungsgrundlage einer befriedigenden Situation für die Donbass Region zu
schaffen.
Die Frage, ob die politischen Entscheidungsträger sich letztlich kompromissbereit zeigen, hängt in dieser verkrusteten Situation zu einem hohen Grad davon ab, ob eine potentielle Lösung
ohne eigenen Gesichtsverlust zu realisieren ist.
Dietmar Pichler - Borsh/April 2015


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